IM VERKEHRSSEKTOR MUSS UMGESTEUERT WERDEN!
erschienen im Parents-Newsletter #24 (Februar 2023)
Der Verkehrssektor ist bekanntermaßen das größte Sorgenkind der deutschen Klimapolitik. Was das Bundesverkehrsministerium zum Thema Klimaschutz abliefert, ist am ehesten mit „Arbeitsverweigerung“ zu umschreiben. Nicht von ungefähr ist die Verkehrspolitik ein zentrales Thema des FFF-Klimastreiks am 3. März 2023.
„Ungenügend“ für den Verkehrssektor
Nach der Energiewirtschaft und der Industrie trägt der Verkehrssektor in Deutschland lt. Umweltbundesamt am meisten zu den Treibhausgas(THG)-Emissionen bei. Im Gegensatz zu anderen Bereichen ist hier auch keine sinkende Tendenz zu erkennen. Effizienzsteigerungen wurden bisher nahezu vollständig durch mehr Verkehr sowie größere und schwerere Fahrzeuge kompensiert (Abb. 1).
Auch für das Jahr 2021 wurde vom Expertenrat für Klimafragen vor allem im Verkehrssektor eine große Lücke in der THG-Minderung festgestellt.
Die als Reaktion auf den Prüfbericht des Expertenrats vom Bundesverkehrsministerium vorgeschlagenen Sofortmaßnahmen haben indes so wenig Substanz, dass der Rat eine Überprüfung für sinnlos erachtet: Der Verkehr würde nach seiner Berechnung bis 2030 nur 14 Millionen Tonnen CO2-Äquivalente einsparen, zu den gesetzlichen Vorgaben bestünde eine Lücke von summiert 261 Millionen Tonnen (Abb. 2). Macht der Verkehr so weiter, müsste er zur Einhaltung der Vorgaben des Klimaschutzgesetzes – das im übrigen nicht auf dem 1,5-Grad-Pfad liegt – im Jahr 2029 die Emissionen auf Null senken. Die FDP schlägt nun vor, statt ambitionierter THG-Reduktionsmaßnahmen das Klimaschutzgesetz zu ändern und strenge Sektorenziele abzuschaffen, um in der FDP unpopuläre Maßnahmen zu vermeiden. Hier wird Interessenpolitik betrieben und auf das eigene Wählerklientel geschaut.
Angefangen beim Tempolimit gibt es zahlreiche Möglichkeiten, im Verkehrssektor Treibhausgasemissionen einzusparen. Das Umweltbundesamt beispielsweise benennt acht Bausteine für ambitionierten Klimaschutz im Verkehr. Dazu gehören der Ausbau der Schiene und der Elektromobilität, die Stärkung des ÖPNV sowie des Fahrradund Fußgängerverkehrs, Geschwindigkeitsbegrenzungen und der Abbau klimaschädlicher Subventionen, z. B. die zu geringe Dienstwagenbesteuerung, die Entfernungspauschale und die fehlende Besteuerung von Flugbenzin. Mit der Umsetzung dieser Maßnahmen würde die jahrzehntelange Bevorzugung des Autos gegenüber öffentlichen Verkehrsmitteln sowie Rad- und Fußverkehr umgedreht und damit korrigiert.
Gesundheit + Sicherheit + Lebensqualität
Mit einer konsequenten Mobilitätswende wird den Menschen zudem ein gesundes und sicheres Wohn- und Lebensumfeld zurückgegeben: Der Bewegungsraum der Kinder muss nicht mehr auf wenige sichere Bereiche reduziert werden, die eingeatmete Luft ist frei von gesundheitsschädlichen Abgasen, der Lärmpegel sinkt, es gibt genug Platz für ein soziales Miteinander. Konkrete Beispiele zeigen den möglichen Weg dorthin:
- In der Initiative „Lebenswerte Städte“ fordern inzwischen über 400 deutsche Kommunen den Bund auf, die rechtlichen Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass Städte und Kommunen Tempo 30 als Höchstgeschwindigkeit innerorts anordnen können, wo sie es für notwendig halten.
- In Paris hat sich die Zahl der Radfahrenden nach fast flächendeckendem Tempo 30 und der Einrichtung zusätzlicher Fahrradwege verdoppelt. Zusätzlich wurden manche Straßen für Fußgänger gesperrt und mehr Grünflächen geschaffen.
- Die Niederlande wurden erst durch neue rechtliche Grundlagen in den 80er und 90er Jahren zur Radfahrendennation.
- In Helsinki wurde nach Einführung von Tempo 30 im Jahr 2018 im Jahr 2019 erstmals keine zu Fuß gehende oder Rad fahrende Person bei einem Verkehrsunfall getötet.
- In Barcelona werden stark verkehrsberuhigte „Superblocks“ (Abb. 3) gebildet, deren Inneres ruhiger, sicherer und grüner gestaltet wird: eine Idee, die auch in Köln aufgegriffen wird.
Aktiv werden für die Verkehrswende
Aktuell wird in der Ampel um die notwendigen Klimaschutzmaßnahmen im Verkehrssektor gerungen. Die FDP steht mit beiden Füßen auf der Bremse. Statt auf Klimaschutz setzt sie auf beschleunigten Ausbau der Autobahnen als „kritische Infrastruktur“: Die im überholten Bundesverkehrswegeplan (BVWP) vorgesehenen Fernstraßenprojekte sollen schneller umgesetzt werden. Stattdessen müsste im Zuge der aktuellen Überprüfung des BVWP die Vorherrschaft des Straßenverkehrs beendet werden. Das würde zugleich verhindern, dass knappe Ingenieur- und Handwerkerkapazitäten von vorrangigen Projekten des Bahnausbaus und der Brückensanierungen abgezogen werden.
Bundesweit werden Initiativen und Organisationen mit verschiedenen Aktionen gegen die Fehlausrichtung im Verkehrssektor aktiv. Einige Beispiele:
- Fridays for Future machen neben Lützerath die Verkehrswende zu einem zentralen Streikthema für den 3. März (siehe auch die Youtube-Aufzeichnung Autobahnen stoppen – das Webinar). Zudem kooperiert FFF mit ver.di und unterstützt die Tarifkampagne #TVN2022 (TVN = Tarifvertrag Nahverkehrsbetriebe) mit der Forderung nach besserer Bezahlung im öffentlichen Dienst.
- Parents for Future werden bei den Aktionstagen „Mobilitätswende jetzt“ am 23./24. April 2023 gemeinsam mit vielen weiteren Gruppen und Organisationen mit der „Roten Klimakarte zum Bundesverkehrswegeplan 2030“ gegen klimaschädliche Straßenbauprojekte protestieren.
- Die Deutsche Umwelthilfe und Campact wollen mit Unterschriftenaktionen die Klimasabotage von Verkehrsminister Wissing beenden und ein Tempolimit von 100 auf Autobahnen und 80 auf Landstraßen erreichen.
- Der BUND verklagt die Bundesregierung auf wirksamen Klimaschutz im Verkehrs- und Gebäudebereich durch ein Sofortprogramm.
A643 - WISSING PLANT MASSIVEN EINGRIFF IN FFH-GEBIET
Der Mainzer Sand ist das Relikt einer nacheiszeitlichen Steppenlandschaft. Er ist rund 10.000 Jahre alt und mit einer europaweit einzigartigen Tier- und Pflanzenwelt (Flora-Fauna-Habitat und EU-Vogelschutzgebiet) beschenkt. Durch dieses Gebiet – und den angrenzenden Lennebergwald – wurde in den 1960er-Jahren die A643 gebaut. Das ist schlimm genug. Noch schlimmer ist, dass diese Autobahn nach dem Willen von Verkehrsminister Volker Wissing auf sechs Spuren plus Standstreifen ausgebaut und mit acht Meter hohen Lärmschutzwänden versehen werden soll. Das würde den endgültigen Ruin der sensiblen Ökosysteme bedeuten.
Der Ausbau der A643 ist Volker Wissings (ehem. Verkehrsminister in Rheinland- Pfalz) persönliches Herzensprojekt. Im Zuge der Beschleunigung von Infrastrukturprojekten soll auch dieses Projekt unter Missachtung der ökologischen Schutzkriterien durchgezogen werden. Das Bündnis „Nix in den (Mainzer) Sand setzen“ hat bereits mehr als 10.000 Unterschriften gegen das Projekt gesammelt. Bis zur Übergabe der Petition Ende Februar freut sich das Bündnis über weitere Unterzeichner*innen der Petition.
Weitere Informationen
- DUH 14.06.2024: Novelle des Straßenverkehrsgesetzes - vertane Chance
- taz 13.06.2024: Straßenverkehrsgesetz reformiert: Auto verliert Vorfahrt
- Expertenbeirat für Klimaschutz in der Mobilität (EKM): JEDE EINGESPARTE TONNE CO2 ZÄHLT: SCHNELL HANDELN IN DER MOBILITÄT FÜR DEN KLIMASCHUTZ
- Europäischer Tag des Fahrrads 2023