Bruttoinlandsprodukt und Klimakrise

Bruttoinlandsprodukt und Klimakrise

Warum wir und ein nachhaltiges Leben nicht leisten können

erschienen im Parents-Newsletter #27 (Juli 2023)

Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) umfasst den Gesamtwert aller Waren und Dienstleistungen, die innerhalb eines Jahres in einem Land hergestellt oder angeboten werden. Seit Jahrzehnten ist diese Berechnung der Index für unseren Wohlstand und für das Wachstum der nationalen Wirtschaft. Da diese Berechnung weltweit Anwendung findet, können Volkswirtschaften so miteinander verglichen und Entwicklungen nachvollzogen werden.

In der Nachkriegszeit wurde der Bevölkerung mit Hilfe dieser Zahl ein steter Fortschritt suggeriert. Ein Mehr an Produktion, ein Mehr an Erwerbstätigkeit und ein Mehr an Konsum bedeuten insgesamt einen „größeren Kuchen“, den wir unter uns aufteilen können. In der Nachkriegszeit mag diese Erzählung ihren Sinn und eine ermutigende Wirkung gehabt haben.

Spätestens in den 80er Jahren wurde die Kritik an dieser Art von Wohlstandsberechnung laut. Insbesondere die Vertreterinnen der feministischen Ökonomie verwiesen darauf, dass ein riesiger systemrelevanter Arbeitsbereich völlig ausgeblendet wird: der gesamte Bereich der unbezahlten Sorgearbeit, ohne die unsere Gesellschaft gar nicht existieren und daher auch gar nicht wirtschaftlich produktiv sein könnte.

Und dies ist keineswegs der einzige blinde Fleck unseres BIPs. Auch die Verteilung der erwirtschafteten Gelder – also die soziale Gerechtigkeit – ist für die Berechnung unerheblich. Das gleiche gilt für ökologische Schäden, die durch das wirtschaftliche Wirken entstehen. Sie tauchen in der Berechnung nicht auf. Immer wieder machten und machen Fachleute auf die Absurditäten aufmerksam, die diese lückenhafte Berechnung von Wohlstand mit sich bringt.

„Ein Tankerunglück, das einen Küstenabschnitt mit Öl verpestet, lässt das BIP ansteigen, weil es dazu führt, dass Firmen kommen und das Öl vom Strand kratzen und also Dienstleistungen erbracht werden.“ – Maja Göpel, 2020

Auch vermehrte Autounfälle, das Ansteigen von Allergien oder chronischen Erkrankungen können aufgrund der erforderlichen medizinischen Versorgung das Wirtschaftswachstum befördern. All das lässt erhebliche Zweifel aufkommen, ob diese Berechnung unseres Wohlstandes wirklich irgendeine positive gesellschaftliche Entwicklung nachzeichnet.

Bruttoinlandsprodukt = Wohlstand?

Letztendlich geht es beim Bruttoinlandsprodukt nämlich nur um Geldkreisläufe und um das Abschöpfen der Profite. Dies macht das BIP nicht nur zu einem lückenhaften Indikator, sondern aus ökologischer Sicht sogar zu einem schädlichen Instrument. Denn die verdeckten und ökologischen Kosten, die durch diese sich immer schneller und profitabler drehenden Geldkreisläufe entstehen, werden konsequent ausgeblendet und die ungebremste Ausbeutung der natürlichen Ressourcen wird dadurch legitimiert.

„Aus einem Konzept wird eine Zahl, aus einer Zahl folgen Entscheidungen, wird Politik, richtet sich eine Gesellschaft aus. Wie viel Wertverlust und Schadschöpfung sich hinter der Zahl verbirgt, bleibt verborgen.“ – Maja Göpel, 2020

Prof. Dr. Ulrike Knobloch nennt dies die „Tischlein- deck-dich-Ökonomie“, da nationale Produktionsstatistiken den Eindruck erwecken, als gäbe es ein natürliches Zugriffsrecht ohne Beschränkungen oder Konsequenzen auf Ökosysteme, Bodenschätze, Tier- und Pflanzenwelt, auf billige Arbeitskräfte in anderen Ländern oder auch auf die unbezahlte Arbeitskraft im eigenen Land.

So werden Umweltschutz, Gesundheit und der soziale Frieden zu „weichen Faktoren“ oder – wie es einige Spezialisten noch deutlicher formulieren – zu „sozialem Gedöns“, das wir uns nur leisten können, wenn vorher genug in die „harten Faktoren“, nämlich in Produktion, Konsum und „Beschäftigung“ (womit immer der Verkauf unserer Arbeitskraft gemeint ist) investiert wurde.

Nach dieser Logik muss jede Tendenz zur Nachhaltigkeit als „zu teuer“ abgelehnt werden. Viele gesellschaftliche Veränderungen, die den CO2-Ausstoß reduzieren könnten, wirken sich nämlich negativ auf das BIP aus.

Dafür einige Beispiele:

  • Wenn wir weniger Produkte herstellen und weniger konsumieren – sinkt das BIP.
  • Wenn wir langlebige Produkte herstellen und Müll vermeiden – sinkt das BIP.
  • Wenn wir Tauschmärkte oder Tauschringe, nachbarschaftliche Hilfe, gemeinschaftliche Nutzung von Geräten oder Fahrzeugen organisieren – sinkt das BIP.
  • Wenn wir Gegenstände reparieren oder flicken, anstatt sie wegzuschmeißen, Produkte selber herstellen, im Garten Gemüse anbauen oder Vorhandenes länger und vielfältiger nutzen – sinkt das BIP.
  • Wenn wir mit ehrenamtlichem Engagement Ökosysteme schützen und ihre Ausbeutung zu wirtschaftlichen Zwecken verhindern – sinkt das BIP.

Fazit: Wenn unser wirtschaftliches und politisches Handeln sich weiterhin am jetzigen Bruttoinlandsprodukt orientiert, stehen gesellschaftlicher Wohlstand und ein klimaneutrales Leben in einem unüberbrückbaren Widerspruch.

Wir benötigen aber in der Klimakrise mit all ihren jetzt schon absehbaren negativen Auswirkungen gerade die Potentiale, die für das derzeitige BIP keinen Wert darstellen: eine gut funktionierende Sorgearbeit, die Fähigkeit zur Selbstorganisation, die Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung und die Bereitschaft, sich für ein solidarisches Miteinander einzusetzen. Und um eine weitere Verschärfung der Klimakrise aufzuhalten, brauchen wir dringend und sofort die Wertschätzung der ökologischen Lebensgrundlagen als ein kostbares gemeinschaftliches Gut: gesunde Böden, einen sicheren Zugang zu Trinkwasser, saubere Luft und klimatische Stabilität.

Was wir uns in Wirklichkeit nicht mehr leisten können, ist eine Berechnung unseres Wohlstandes, die den Schutz unserer Lebensgrundlagen nicht fördert, sondern verhindert.

Deshalb empfehlen die UN ihren Mitgliedstaaten, dass die natürlichen Lebensgrundlagen sowie ihre Schmälerung künftig in die Berechnung des Bruttoinlandsproduktes mit einbezogen werden.

Nach UN-Angaben sind es derzeitig weltweit 34 Länder, die mit einem neuen, nachhaltigeren Berechnungsmodell experimentieren. Deutschland gehört nicht dazu.

 

Rike, Newsletter-Team

 

Quellen: