Atlantische Umwälzströmung
Der Kipppunkt, der Europa zerstört
erschienen als Sonder-Newsletter (September 2024)
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"Das wäre das Aus für die europäische Landwirtschaft", sagt Peter Ditlevsen, Physikprofessor am Niels-Bohr-Institut der Universität Kopenhagen. Er meint die möglichen Veränderungen der AMOC, der Atlantischen Umwälzströmung. "Daran kann man sich nicht anpassen."
Noch ist es nur ein kleiner blauer kalter Fleck auf den Temperaturkarten der Klimaforschung: Im Meer, südlich von Grönland, liegt der einzige Ort weltweit, der sich nicht erwärmt, sondern abkühlt (siehe folg. Abbildung). Ein harmloses Kuriosum?
"WARUM BEACHTET DAS NIEMAND?", schreibt Extinction-Rebellion-Gründer Roger Hallam am 4. September 2024 in Großbuchstaben auf der Plattform X. Ein Tweet aus dem Gefängnis. Fünf Jahre Haft verbüßt er wegen Mitverantwortung an der Blockade einer englischen Autobahn.
Der "kalte Fleck" gilt als eines der Indizien, dass die "Atlantic Meridional Overturning Circulation" (AMOC), zu deutsch "Atlantische Umwälzströmung", schwächer wird. Also das komplexe, riesige Strömungssystem, das auch den Golfstrom umfasst und Europa mit Wärme aus dem Süden versorgt.
Der derzeitige Stand des Flecks entspreche einer 15-prozentigen Schwächung der AMOC, schreibt der Ozeanograf Stefan Rahmstorf vom Potsdam Institut für Klimafolgenforschung. In einem Vortrag in Vilnius im Mai 2024 hat er den Mechanismus erklärt.
Angetrieben wird die AMOC vor allem durch eine Eigenschaft des Wassers: Es kann unterschiedlich dicht sein. Die Dichte hängt von der Temperatur ab (warmes Wasser ist leichter als kaltes), vor allem aber vom Salzgehalt.
Salzigeres Meerwasser aus den Subtropen strömt an der Meeresoberfläche in den Nordatlantik. Dort gibt es mehr Regen, es gelangt mehr Süßwasser ins Meer. Salziges Wasser hat eine höhere Dichte, ist schwerer. Gelangt es in weniger salziges Wasser, beginnt es zu sinken, 2.000, 3.000 Meter tief – und dieses Sinken sorgt für die Bewegung der Umwälzströmung, es ist ihr "Motor".
Ein subpolarer Wirbel
Das an der eisigen Luft des Nordens erkaltete, salzige Oberflächenwasser sinkt in die Tiefe. Und die Vermischung mit weniger salzigem, weniger kaltem Wasser auf seinem Weg nach unten, "Konvektion" genannt, bahnt fortwährend weiteren Wassermengen von oben den Weg. Das findet hauptsächlich an zwei Stellen statt: Zum einen im Nordmeer, nordöstlich von Grönland. Hier bilden sich drei Viertel des Tiefenwassers. Das läuft derzeit stabil.
Das letzte Viertel entsteht südlich von Grönland, in der Labradorsee. Und dort gibt es Probleme.
Denn die Konvektion an dieser Stelle treibt neben der AMOC auch eine weitere große Strömung an, den "Subpolarwirbel", der Wassermassen von Grönland aus die Küste Kanadas hinunterführt, quer durch den Nordatlantik und wieder zurück, an Irland vorbei, nach Grönland.
Und in der Mitte dieses Subpolarwirbels liegt der blaue, kalte Fleck.
Der Fleck könnte ein Zeichen sein für eine Schwächung dieser Konvektion – und das beträfe nicht nur die AMOC, sondern auch den Subpolarwirbel. Der Weltklimarat IPCC gibt einen Hinweis darauf, was eine solche Schwächung auslösen könnte: ein "Schmelzwasserzufluss aus dem grönländischen Eisschild". (Vgl. auch: IPPC: "Sixth Assessment Report – Climate Change 2023, Chapter 9: Ocean, Cryosphere and Sea Level Change." S. 1320.)
Denn das Schmelzen der großen Eisdecke, die Grönland bedeckt, hat sich durch den Klimawandel beschleunigt: Das Eis schmilzt bis zu fünfmal schneller als vor der industriellen Revolution und die Schneefälle, die bisher dafür sorgten, dass sich wieder neues Eis bildete, haben seit 1996 abgenommen. 30 Millionen Tonnen Eis verliert Grönland pro Stunde (siehe folg. Abbildung).
Der grönländische Eisschild besteht aus Süßwasser. Und viel Süßwasser, zusätzlich zu den steigenden Regenmengen im Nordatlantik, kann tatsächlich die Absinkprozesse stören, die Subpolarwirbel und AMOC antreiben.
Gefahr droht früher als gedacht
Dass dadurch gleich die AMOC ausfällt, damit wird zunächst nicht gerechnet. Anders aber sieht es beim Subpolarwirbel aus. "Es kann innerhalb von zehn Jahren passieren", sagte Didier Swingedouw, Ozeanograf an der Universität Bordeaux, der Süddeutschen Zeitung im Mai 2024. Modelle sehen eine Wahrscheinlichkeit von 35 bis 45 Prozent, dass er bereits in den 2030er Jahren kollabiert.
Der blaue Fleck würde dann viel größer (siehe folg. Abbildung). Die Auswirkungen des Endes des Subpolarwirbels wären weniger drastisch, als wenn die ganze AMOC zusammenbräche, genügten aber, um Europa zu verändern.
Nordeuropa könnte innerhalb von zehn Jahren um bis zu vier Grad abkühlen. Besonders betroffen: Großbritannien, die Niederlande, Deutschland und Polen. Es mag Menschen geben, die es positiv sehen, wenn es auf einem von Klimaerwärmung geprägten Kontinent kühler würde – doch leider ist das eine Milchmädchenrechnung. Denn es führte wahrscheinlich, sagt Stefan Rahmstorf, "zu nie gekannten Extremwetterereignissen".
Probleme bei der Lebensmittelproduktion
Luftdruckveränderungen könnten mal zu einer Zunahme von starken Hitzewellen aus dem Süden führen, in manchen Monaten aber auch extreme Kaltluft aus dem Norden nach Deutschland bringen. Höhere Temperaturunterschiede zwischen dem kühleren Nordeuropa und dem durch die Erderwärmung geprägten Südeuropa führten zu Stürmen. Es käme zu einer Veränderung – und Verringerung – von Niederschlägen.
Kurzum: ein Wetterchaos, eine massive Herausforderung für die Bäuerinnen und Bauern in Deutschland. Und die Landwirtschaft in Südeuropa, die seit Jahren aufgrund der Klimaerwärmung von Hitzewellen, Wassermangel und Bränden beeinträchtigt wird, könnte die Folgen bei der Lebensmittelproduktion vielleicht nicht ausgleichen.
Wie reagiert dann die AMOC?
Die große Frage aber ist, wie stark ein Ende des Subpolarwirbels die große Umwälzströmung AMOC beeinträchtigt. Befürchtet wird ein Teufelskreis, bei der eine schwächere AMOC immer weniger salziges Wasser aus dem Süden heranführen kann – und so noch schwächer wird, bis ihr Motor stockt. "Wenn die Konvektion des Subpolarwirbels abreißt, könnte langfristig auch die AMOC über die Kante gehen", sagt Ozeanograf Rahmstorf.
Ein Zusammenbruch der AMOC sei bereits wahrscheinlicher geworden. "Es gibt inzwischen fünf Studien, die davon ausgehen, dass das sehr wohl bereits in diesem Jahrhundert stattfinden könnte oder sogar vor 2050", sagt er. "Meiner Einschätzung nach ist das Risiko, dass wir diesen Kipppunkt in diesem Jahrhundert auslösen, möglicherweise sogar größer als 50 Prozent."
Was sich nach einem Zusammenbruch der AMOC (siehe folg. Abbildung) in den folgenden Jahrzehnten entfalten könnte, wäre ein Szenario, wie man es teilweise im Blockbuster "The Day After Tomorrow" gesehen hat: Meeresspiegel-Anstieg an der amerikanischen Atlantikküste, Dürren in Europa und eisige Temperaturen in Großbritannien und Skandinavien.
Während sich der Rest der Welt aufheizt, wird es in Nordeuropa rasch kälter. Dieser Temperaturgegensatz könnte das Wetter in Deutschland massiv verändern und zu nie dagewesenen Stürmen führen. Rahmstorf spricht von der "Zerstörung der Landwirtschaft" in Nordeuropa.
Fazit
"Wo bleibt die politische Notstandsrede an die Nation? Wo bleiben Brennpunkte, Talkshows und Titelseiten zu dieser riesigen Bedrohung?", fragen in ihrem Newsletter "Treibhauspost" Anfang September die Autoren Manuel Kronenberg und Julien Gupta, die mit ihrem Buch "Unlearn CO2" im Sommer einen Spiegel-Bestseller gelandet haben.
Worte und Taten entsprechen nicht dem Risiko. Die Öl- und Gasindustrie erhöht ihre Investitionen in fossile Energien. Banken und Fonds finanzieren das mit riesigen Summen. Das bindet systemrelevante Teile der Gesellschaft wie Krankenversicherungen, Rentenversicherer und große Unternehmen ökonomisch an das Verbrennen von Kohle, Öl und Gas – genau dieses Verbrennen aber müsste schnell und vollständig gestoppt werden, um die beschriebenen Veränderungen aufzuhalten.
Und so gilt das ungläubige Entsetzen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern nicht nur ihren immer wahrscheinlicher werdenden Szenarien, sondern auch dem Desinteresse, auf das das Thema "Klima" im Jahr 2024 in maßgeblichen Teilen der Gesellschaft stößt.
Ulrich Hansen,
Mitglied von Scientists for Future Mainz
Weitere Informationen
- taz-Beitrag zu einer neuen Studie, die unter Einbeziehung anderer Faktoren die Auswirkungen doch weniger schlimm kalkuliert. Der Fokus des Beitrags liegt aber eher auf der Zuspitzung der Medien, wobei über positive Nachrichten oft nicht berichtet werde.
https://taz.de/Archiv-Suche/!6038188&s=jakob&SuchRahmen=Print/