Wer nicht zuhört, dem wird immer lauter ins Ohr gerufen
Meine Tochter ist Aktivistin bei Fridays for Future Deutschland und im Bündnis "Wald statt Asphalt". Sie hat in den vergangenen Monaten mit vielen anderen jungen Menschen den Dannenröder Forst besetzt. Ich, ihre Mutter, wohne in Frankfurt am Main, das mit Wasser aus dem Vogelsberg versorgt wird, lebe im Bundesland Hessen, das in den beiden zurückliegenden Jahren mit Wassernotständen zu kämpfen hatte.
Meine Heimat ist Deutschland, das zurzeit Ressourcen verbraucht, als stünden drei Planeten zur Verfügung. Und mit 7,8 Milliarden anderen Menschen lebe ich auf der Erde, deren Existenz durch dramatische Klimaveränderungen bedroht ist. Seit 40 Jahren weisen Forscherinnen und Forscher darauf hin, dass sich unser Klima nicht mehr als 1,5 Grad erwärmen darf, ohne dass irreversible Schäden entstehen. UN Generalsekretär António Guterres warf vor kurzem den Staaten suizidales Versagen in der Klimakrise vor und konstatierte, dass die Menschheit einen Krieg gegen die Natur führt.
Lange Tradition des zivilen Ungehorsams – und dessen Kriminalisierung
Mit anderen Eltern habe ich mich zur Aktionsgruppe Danni-Eltern zusammengeschlossen, die unsere Kinder in ihrem Kampf für eine klimagerechte Zukunft unterstützt. In den Monaten der Waldbesetzung mussten wir mit ansehen, wie sie für ihr legitimes Anliegen in der Öffentlichkeit als Gewalttäter:innen und Ökoterrorist:innen beschimpft wurden. Die unbenommen gesetzeswidrige Besetzung des Dannenröder Forstes ist jedoch in meinen Augen ein Akt des zivilen Ungehorsams als Reaktion auf die Ignoranz der politischen und gesellschaftlichen Entscheidungsstrukturen.
Unsere Kinder stehen mit ihrem Protest in einer langen und erfolgreichen Tradition des zivilen Ungehorsams in Deutschland. In meiner Generation waren es vor allem die Anti-Atomkraft- und die Friedensbewegung. Die 68er-Bewegung veränderte unsere Gesellschaft in der Generation meiner Eltern. Ungehorsam ist immer dann ein probates Mittel, wenn Meinungsäußerungen von der Politik nicht angemessen gehört werden. Aber leider muss man auch sagen, dass es eine lange und erfolgreiche Tradition der Kriminalisierung solcher Bewegungen gibt.
Reflexhafter Selbstschutz
Das von Guterres so treffend beschriebene suizidale Versagen der Politik und das allgemeine gesellschaftliche Verdrängen der Klimakatastrophe können von der jungen Generation in keinem Fall hingenommen werden. Sind doch gerade sie es, die die Folgen des Versagens am eigenen Leib erfahren und künftig verstärkt weiter erfahren werden.
Doch die immer lauter werdenden Forderungen der jungen Gruppierungen nach Klimagerechtigkeit und angemessenem sofortigen Handeln werden nicht nur nicht gehört, sondern marginalisiert, ignoriert und kriminalisiert. Es scheint mir, als sei dies ein reflexhafter Mechanismus des gesellschaftlichen Selbstschutzes. Also entschlossen sich unsere klugen und gut informierten Kinder, den Dannenröder Forst zu besetzen. Sie stiegen auf Bäume, bauten Baumhäuser hinein und riefen uns von dort oben zu: „Ihr müsst Euch ändern!“
„Nicht viel im Hirn“
Aber vielleicht ist es nicht nur Ignoranz und Verdrängung, sondern manchmal auch ein Kommunikationsproblem zwischen den Generationen. Wer den Weg bis zum zivilen Ungehorsam einer Bewegung nicht nachverfolgt hat, kann auch den dahinterliegenden Prozess nicht verstehen.
Wie anders wäre sonst zum Beispiel die Zuschrift eines 57-jährigen zu verstehen, die mich vor einer Weile anonym erreicht hat? Ich will sie im Original zitieren: „Könnt Ihr eure Verkommene Saubande nicht selber aus den Nestern treiben, oder braucht Ihr auf einmal Unterstützung. Merkt Ihr nicht, dass Ihr bei Eurer Zucht etwas falsch gemacht habt. Nicht viel im Hirn.“
Politische und mediale Abrüstung erforderlich
Der Ruf nach Klimagerechtigkeit ist so lange ungehört verhallt, bis die Bewegung notgedrungen Mittel ergriff, die den Weg in die Medien öffneten. Und dort erscheint nun - für viele scheinbar unvermittelt - eine in ihrer Ausdrucksform gesetzeswidrige Protestbewegung. Natürlich ist es nicht erlaubt, Wälder und Autobahnbrücken zu besetzen. Ich will dies auch gar nicht bestreiten. Aber die Adressaten dieser Aktionen sind Teil des Spiels.
Wer nicht zuhört, dem wird immer lauter ins Ohr gerufen. Beide Seiten sind (allerdings in unterschiedlicher Gewichtung) für die Verschärfung des Konflikts verantwortlich. Spätestens jetzt, nach der Räumung, ist es notwendig, politisch und medial abzurüsten, die Ereignisse aufzuarbeiten und den Dialog zu suchen. Vielleicht hilft es ja dabei, wenn handelnde Personen und ihre Motive deutlicher zum Ausdruck kommen. Dazu möchte ich einen Beitrag leisten, indem ich von meiner Tochter erzähle.
Den Haushalt umgekrempelt
Tessa, Anfang 20, Studentin, ist eine lebhafte, überaus strukturierte und kluge junge Frau. Ihr hohes Verantwortungsgefühl und ihre ausgeprägte Empathie haben sie schon früh motiviert, über Gerechtigkeit nachzudenken. In ihrer Schulzeit hatte sie einen sehr geschätzten Philosophielehrer, der sie mit den Gedanken von Kant vertraut machte. Seine vier berühmten Fragen nach dem Dasein wurden auch in unserer Familie diskutiert.
Das Thema Klimagerechtigkeit und die Frage nach den Ursachen der Klimaveränderung beschäftigten Tessa bereits in der Oberstufe. Sie wurde Vegetarierin, krempelte unseren Haushalt in Bezug auf Lebens- und Putzmittel um. Wir vermieden Müll, zahlten Emissionsausgleich (wenn wir einmal flogen) und überdachten die Fahrten mit dem Auto. Für unsere Familie führte das zu vielen Veränderungen im Alltag. Tessa war (und ist) inspirierend.
Aus Faktenwissen zum Klimawandel wurde Liebe zum Wald
Als Teenager absolvierte sie Freiwilligendienste in Thailand und Ghana. Sie trat bei den Maltesern ein und wurde Einsatzsanitäterin. Greta Thunberg beeindruckte sie mit ihrem Einsatz so sehr, dass sie sich bei Fridays for Future engagierte. Bei uns im Haus wurden von diesem Zeitpunkt an Aktionen geplant, Plakate gemalt und Ideen entwickelt. Aber vor allem haben wir uns durch die Reflexion unseres alltäglichen Handelns selbst verändert. Tessa hat mir als Mutter kein “Weiter so“ erlaubt.
Und dann kam der Danni. Ihr Denken und Handeln bekamen in den Wochen und Monaten unter den Kronen der 300 Jahre alten Buchen und Eichen eine zusätzliche neue und tiefe emotionale Grundlage. Aus Fakten zum Klimawandel wurde auch Liebe zum Wald.
Aus einem jungen Mädchen wurde eine reflektierte Frau
Sie schlief in einem Baumhaus und setzte ihr Studium online fort. Als die Räumung der Barrios und die Rodung der Autobahntrasse der A49 mit hohem Polizeiaufgebot immer näher rückten, entschloss sie sich in das Solidaritätscamp umzusiedeln. Sie übernahm vor allem organisatorische Aufgaben und führte Gespräche mit der Presse und der Politik, hielt Reden bei Versammlungen, um die Anliegen der Bewegung zu kommunizieren. Als Mutter durfte ich sie dabei oft begleiten und konnte zuschauen, wie aus einem jungen Mädchen eine reflektierte Frau wurde, die für ihre Überzeugungen und Haltungen eintrat.
Heute, nach der endgültigen Räumung des Danni, bin ich froh, dass meine Tochter sich nicht zu sehr verändert hat. Sie ist ihrem nachdenklichen, aufrichtigen und nach Gerechtigkeit suchenden Charakter treu geblieben, auch wenn es eine harte Zeit mit Kälte, Nässe und Schnee war. Trotzdem stand ihr Zelt die zurückliegenden drei Monate im Protestcamp. Es war für sie schockierend, mit anzusehen, wie ein Aufgebot von hunderten und manchmal auch von tausenden bewaffneten Polizistinnen und Polizisten mit Räumpanzern, Wasserwerfern, Helikoptern, Schlagstöcken und Pfefferspray im Danni anrückte, um mit teilweise unverhältnismäßiger Gewalt den Widerstand der jungen Leute zu brechen.
Mit Hass im Gesicht
Ihren Telefonanruf nach der ersten Gewalterfahrung werde ich nicht vergessen. Selbst wenn die angedrohten Faustschläge ins Gesicht nicht ihr, sondern einem Freund galten, konnte ich Ihrer Stimme sofort anhören, dass etwas passiert war. Sie sagte, was sie am meisten erschreckt hatte, war der unverhohlene Hass im Gesicht des Polizisten.
Die vereinzelnd ausufernde Gewalt der Polizei, die immer dann stattfand, wenn keine Kamera, keine Presse und keine Beobachter:innen anwesend waren, führte zu physischen und psychischen Verletzungen: Armbrüche und Prellungen, aber auch lebensgefährliche Wirbelverletzungen durch Stürze aus hoher Höhe und Angsttraumata in der Seele. Viele Eltern unserer Gruppe lebten wochenlag in Angst um das Leben und die Gesundheit ihrer Kinder. Wer nun unseren Kindern entgegnet: „Dann geht doch einfach nach Hause!“, hat nicht nur akzeptiert, dass man Polizeigewalt nur aus dem Weg gehen kann, wenn man den Danni verlässt, sondern auch nicht verstanden, dass es hier um einen existenziellen Notruf der jungen Generation geht. Und es geht um Ideale einer nachhaltigen, solidarischen und freien Gesellschaft, die im Danni als Experiment gelebt wurden.
Gräben zwischen den Generationen vertieft
Wie viele andere auch fühlt sich Tessa nach der Räumung des Danni in ihren legitimen Anliegen von der Politik ignoriert, von der Staatsgewalt eingeschüchtert und von den Medien verunglimpft. Wieso ist es so schwer, mit der berechtigten Forderung nach einer realen Verkehrswende und einem der Klimakatastrophe angemessenen Handeln durchzudringen?
Tessa ist an ihren Erfahrungen im Danni gewachsen. Sie hat ihr grundsätzliches Verständnis von Gesellschaft und Demokratie nicht über Bord geworfen. Tatsächlich hat es durch die basisdemokratischen Ideale der Waldgemeinschaft sogar noch an Tiefe gewonnen. Doch verändert hat sich ihre Haltung zu den politischen Parteien, insbesondere zu den Grünen. Für sie und viele junge Leute ist es absolut unverständlich, dass ausgerechnet die Partei, die selber Protestwurzeln hat, nun mit staatstragender Härte eben jenen begegnet, die sie vor vierzig Jahren selbst hätten sein können. Das vertieft den Graben zwischen den Generationen zusätzlich.
Lehrstunde in Desillusionierung einer ganzen Generation
Tessa wird sich weiter engagieren. Sie hat im Danni gelernt, dass es möglich ist, über die eigene Komfortzone hinauszuwachsen, mutig zu sein und sich auch und gerade in schwierigen Grenzsituationen immer wieder selbst zu reflektieren. Der harte Konflikt mit der Staatsmacht hat bei ihr zu vielen Gedanken über demokratische Aushandlungsprozesse geführt; auch über die Rolle, die sie selbst darin gespielt hat. Wie weit darf ziviler Ungehorsam gehen? Wann wird dadurch Demokratie beschädigt? Aber auch: Wann beschädigen Politik und Polizei dringend eingeforderte Aushandlungsprozesse?
Aus der im Danni gelebten Fehlerkultur heraus hätte sie sich gewünscht, dass die Politik gesagt hätte: Wir halten einen Moment inne und denken noch mal nach. Wir fragen uns, wo Fehler gemacht wurden. Wir überprüfen Alternativen. Sie weiß, dass ziviler Ungehorsam demokratische Grundsätze nicht aushebeln darf. Demokratie kann nicht erpressbar sein. Aber hätten sich die demokratischen Staatsorgane denn wirklich selbst untergraben, wenn sie auf die berechtigten Anliegen der Waldbesetzung inhaltlich eingegangen wären? Hätte ein Perspektivwechsel nicht zu besseren Ergebnissen geführt, wenn man das Engagement und die Argumente der jungen Leute zu schätzen gewusst hätte, anstatt sie zu kriminalisieren? Das wäre ein Zeichen echter Stärke gewesen und hätte eine Tür zur politischen Partizipation geöffnet. So wurde eine Chance verpasst. Eine politisch denkende und handelnde Bewegung erhielt eine Lehrstunde in Desillusionierung.
„Die Klimakrise wird Tessa im Kern ihrer Existenz treffen“
Tessa wird ihr Studium beenden und einen Platz finden, an dem sie ihren Einsatz für den Planeten auch beruflich weiterführen kann. Sie wird Teil der künftigen Gesellschaft sein, die die Folgen der Erderwärmung abarbeiten muss. Für sie und ihre Kinder, die sie eines Tages haben könnte, werden der Klimawandel und seine Auswirkungen zum Alltag gehören. Dann wird es nicht reichen, eine Maske aufzusetzen und Abstand zu halten. Diese Krise wird sie im Kern ihrer Existenz treffen. Tessa weiß das in aller Klarheit. Und sie wird auch so klar handeln - jetzt und künftig.
Dem anonymen Emailschreiber möchte ich zum Schluss noch sagen, dass ich meine „Zucht“ für außerordentlich gelungen halte. Und nicht nur das, Tessa hat auch das Herz auf dem rechten Fleck. Anonyme ignorante Pöbeleien kämen ihr nicht ins Hirn.