Meine Tochter ist keine Terroristin
Vor 15 Monaten rückte zum ersten Mal der Dannenröder Wald ins Bewusstsein meiner jüngsten Tochter. Sie war 16 Jahre alt und auf der Suche nach politischen Zielen und Lebensentwürfen, nach einer Gruppe von Gleichaltrigen mit gleichen Interessen und Idealen.
Sie alle trieb ein Grundwiderspruch an, mit dem wir in den westlichen Industriegesellschaften leben: „Wir folgen einer Ökonomie, die ihre eigenen Voraussetzungen konsumiert“, wie es Harald Welzer in seinem Sachbuch „Alles könnte anders sein“ treffend formuliert. Ein Kapitalismus, der auf ständiges Wachstum setzt, muss notwendigerweise an seine Grenzen kommen und scheitern. Die Vorstellung, dass Naturressourcen unbegrenzt vorhanden sind, widerspricht dabei allem, was wir über das Universum wissen, und allem, was wir in den Schulen lehren. Ich selbst unterrichte Naturwissenschaften, und der Klimawandel ist seit 30 Jahren ein Bestandteil unseres Lehrplans.
Für diesen Grundwiderspruch ist die rücksichtslose Zerstörung des Ökosystems Dannenröder Wald ein derart deutliches Sinnbild, dass es selbst mir als erwachsene, erfahrene, abgeklärte und krisenerprobte Bürgerin große Schmerzen, Trauer und Verzweiflung bereitet, das mit ansehen zu müssen. Wie muss es da unseren Kindern und Jugendlichen gehen, die ihre Zukunft noch vor sich haben und ertragen müssen, dass wider besseres Wissen die Lebensgrundlagen weiterhin unbeirrt zerstört werden? Und das sogar unter der Regie eines grünen Verkehrsminister in Hessen.
So haben diese Jugendlichen, darunter meine damals 16-jährige Tochter, begonnen, den Dannenröder Wald zu besetzen, um ihn vor der drohenden Rodung für eine weitere Autobahn, die A 49, zu schützen. Das war ein großes Abenteuer, eine unendliche Quelle neuer Erfahrungen: Plattformen hochziehen, Baumhäuser errichten, in schwindelnde Höhen klettern, auf improvisierten Feuerstellen kochen, Material beschaffen, die eigene Kraft und Wirksamkeit erleben. Sie haben den Wald, die Tiere, die Natur in ihr Herz geschlossen und ihn mit seiner ganzen ökologischen Vielfalt noch mehr schätzen gelernt. Auch die Suche nach neuen Formen des Zusammenlebens, gemeinsam so lange zu diskutieren, bis wirklich alle zufrieden und überzeugt von den gefundenen Lösungen waren, der herrschaftsfreie Diskurs, waren ganz wichtige, unersetzliche Aspekte.
„Ich habe in diesem Jahr viel mehr gelernt als in meiner gesamten Schulzeit bisher“, so hat meine Tochter das mir gegenüber einmal ausgedrückt. Vor allem aber war da das ganz tiefe Gefühl, sich für die richtigen Werte einzusetzen, für eine Zukunft im Einklang mit der Natur, für eine Gesellschaft mit Zukunft, für Veränderungen, gegen ein „Weiter so“ wider besseres Wissen.
Ich habe mir von Anfang an riesige Sorgen um meine Tochter gemacht. Ich hatte Angst vor Unfällen, vor Abstürzen beim nächtlichen Klettern in die Baumhäuser, vor Konfrontationen mit der Polizei, die schon damals die ganze Besetzung mit Reiterstaffeln, Polizeihubschraubern und Festnahmen begleitet hat, vor Krankheiten durch die Kälte und die schlechten hygienischen Bedingungen. Spätestens nachdem sie im Zusammenhang mit der Räumung mehrfach traumatisierende Polizeigewalt erleben musste, waren meine Sorgen fast unerträglich. Ich hatte riesige Angst, dass sie bleibende seelische Schäden davontragen würde. Das schien mir die ganze Sache nicht wert zu sein. Am liebsten hätte ich ihr das ganze Unterfangen kategorisch verboten.
Doch wie hätte ich argumentieren sollen? Inhaltlich konnte ich das Anliegen dieser jungen Menschen so gut verstehen. Außerdem war sie inzwischen 17 Jahre alt und hätte sich ohnehin nicht einsperren lassen. So musste ich meine Sorgen aushalten, die völlig unverhältnismäßige Polizeigewalt immer wieder erleben und ertragen.
Wenn unsere Generation und die vorherigen Generationen keine Antworten auf die drängenden Fragen gefunden hatten, so konnte ich den Widerstand gegen den Bau dieser komplett überflüssigen Autobahn nicht kritisieren. Denn trotz aller vermeintlichen Bemühungen ist nach neuesten Messungen der CO2-Gehalt der Atmosphäre höher denn je, wir gehen immer weiter in die falsche Richtung, das Eis in der Arktis schmilzt, die Permafrostböden in Sibirien tauen auf, die Wüsten breiten sich aus, Unwetter nehmen zu, immer mehr Gegenden der Welt werden unbewohnbar und gefährlich.
Es sind diese jungen Menschen, die uns mit ungewöhnlichen, kreativen, phantasievollen, manchmal auch kritischen Maßnahmen und mit zivilem Ungehorsam auf diese Widersprüche aufmerksam machen und dafür sorgen, dass Träume, Utopien von einer besseren Zukunft und von Lösungen wieder möglich werden. Es sind diese jungen Menschen, die den Mut und die Kraft haben, sich gegen den Irrsinn des grenzenlosen Wachstums auf einem begrenzten Planeten zu stellen. Sie sind es, die genug Intelligenz, Fantasie und soziale Kompetenz besitzen, um diesen Weg zu gehen, um die Hoffnung nicht aufzugeben.
Und ich bin so unendlich stolz, dass meine Tochter eine von ihnen ist.
Wir können es uns nicht leisten, diese jungen Menschen als „Terroristen“ abzustempeln, sie zu kriminalisieren und durch Polizeigewalt zu traumatisieren. Ihnen nicht zuzuhören, einfach über ihre Anliegen hinwegzugehen. Wie froh können wir sein, dass es noch Jugendliche gibt, die sich für gemeinsame Werte engagieren und nicht nur ihr eigenes Wohl im Sinn haben! Die noch andere Ziele haben, als die von der Werbung geweckten Bedürfnisse möglichst schnell zu befriedigen. Die nicht allein nach einem immer luxuriöseren, bequemeren, wohlhabenderen Leben für sich selbst streben.
Lasst uns ihre Ideen unterstützen und mit ihnen gemeinsame Wege suchen!