Ökozid Teil 1: Wenn Moral zu Recht wird, verändert sich die Welt

Ökozid Teil 1: Wenn Moral zu Recht wird, verändert sich die Welt

erschienen im Parents-Newsletter #28 (September 2023)

Stop-Ökozid DeutschlandDie EU hat aktuell die historische Chance, eine globale Führungsfunktion zu übernehmen – und Deutschland spielt dabei eine zentrale Rolle.

Immer öfter taucht in den Medien der Begriff Ökozid auf. Aber was genau verbirgt sich dahinter? Die Parents AG gleichen Namens informiert mit Webinaren, Artikeln und Social Media über das Thema und ist dabei deutschlandweit sowie international gut vernetzt. Jörg Weißenborn hat sich mit der AG-Sprecherin Ulrike Hübner und dem Teamleiter von Stop Ecocide Deutschland Wolf Hingst unterhalten. Das Interview ist zweigeteilt – Teil 2 erscheint im nächsten Newsletter Anfang November.

Frage: Fangen wir ganz allgemein an: Was versteht Ihr unter „Ökozid“?

Antwort: „ÖKOZID“ ist ein Wort, das beschreibt, was unserem Planeten geschieht: die massive Schädigung und Zerstörung der natürlichen Lebenswelt. Es bedeutet buchstäblich: „sein Zuhause töten“. Doch zurzeit wird in den meisten Teilen der Welt kein Mensch dafür zur Verantwortung gezogen.

Ökozide sind wesentliche Treiber von Klimakatastrophe und Massenaussterben – und sie sind meistens nicht illegal, sondern genehmigt. Deshalb arbeitet die AG gemeinsam mit dem deutschen Zweig der internationalen Organisation „Stop Ecocide“ darauf hin, Ökozid zu einem weltweiten Verbrechen zu machen – zusammen mit einem wachsenden globalen Netzwerk aus Jurist*innen, Diplomat*innen und Aktiven in allen Sektoren der Zivilgesellschaft.

Frage: Was ist aktuell Euer zentraler Fokus?

Antwort: Gerade wird in der Europäischen Union die Richtlinie zum Umweltstrafrecht verschärft – wir arbeiten u. a. mit WeMove Europe und Avaaz daran, dass Ökozid darin als eigenständiger Straftatbestand eingeführt wird. Über 600.000 Menschen haben die Petition bereits unterzeichnet (siehe Link unten). Damit würde die EU eine weltweite Führungsfunktion übernehmen und Deutschland spielt in der EU eine zentrale Rolle. Die Tragweite dieses Paradigmenwechsels für den Natur- und Klimaschutz kann nicht hoch genug eingeschätzt werden.

Der Vorschlag des EU-Parlamentes würde alle Mitgliedsstaaten verpflichten, die schwersten Umweltverbrechen in ihren Rechtssystemen zu kodifizieren und entsprechend zu ahnden. Die Abwägung zwischen Natur- und Artenschutz – und damit dem Klimaschutz – einerseits und wirtschaftlichen Interessen andererseits würde damit auf eine völlig neue Grundlage gestellt.

Diese Info verbreiten wir insbesondere über die Ortsgruppen und stehen sehr gerne für Infos und Webinare zur Verfügung.

Höchsgte Zeit für ein Ökozidgesetz

 

Frage: Ein einheitlicher Ökozid-Straftatbestand in der gesamten EU wäre sicher ein gewaltiger Fortschritt. Aber Ihr wollt noch mehr, oder?

Antwort: Ja genau: Der Weg, den wir verfolgen, ist die Ergänzung der Rechtsgrundlage des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH): das sogenannte Römische Statut soll neben Kriegsverbrechen, Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit (z. B. Sklaverei) und dem Verbrechen der Aggression (Angriffskriege) um das fünfte Verbrechen „Ökozid“ ergänzt werden. Interessanterweise war in den Entwürfen des Statutes in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts bereits vorgesehen, gravierende Umweltzerstörung als Verbrechen zu definieren.

Frage: Was ist das Besondere am Römischen Statut und dem Internationalen Strafgerichtshof?

Antwort: Das Rom-Statut ist der einzige globale Mechanismus, der auf die Justizsysteme seiner 123 Mitgliedstaaten zugreift. Über das Weltrechtsprinzip gilt es zudem selbst für Taten in Ländern, die das Statut nicht unterzeichnet haben. Dadurch ist eine weltweit einheitliche Gesetzgebung umsetzbar. Und das ist von entscheidender Bedeutung: Denn nur globale Regelungen schaffen die nötigen Rahmenbedingungen für nachhaltiges und faires Wirtschaften – und für die so dringend nötige sozial- ökologische Transformation.

Aus diesem Grund hat u. a. das International Corporate Governance Network (ICGN), hinter dem Investoren mit einem verwalteten Vermögen von über 70 Billionen Dollar stehen, im November 2022 in seiner Erklärung zur Weltklimakonferenz COP 27 die Regierungen zum zweiten Mal in Folge aufgefordert, Ökozid zum Straftatbestand zu machen.

LEGALDEFINITION „ÖKOZID“

Insbesondere für deutsche Ohren ist das mächtige Wort „Ökozid“ manchmal verstörend – dies liegt u. a. an der besonderen Sensibilität, mit der hierzulande und zu Recht mit dem Wort „Genozid“ umgegangen wird.
Rein sprachlich bedeutet das aus dem Griechisch/Römischen stammende Wort ÖKOZID „Mord an unserer Heimat“. Und genau darum geht es: um die Zerstörung unserer eigenen Lebensgrundlagen.
Ökozid bedeutet rechtswidrige oder willkürliche Handlungen – mit dem Wissen begangen, dass eine erhebliche Wahrscheinlichkeit schwerer und entweder weitreichender oder langfristiger Schäden für die Umwelt besteht, die durch diese Handlungen verursacht werden. Diese Legaldefinition des Tatbestands Ökozid wurde auf Einladung der Stop Ecocide Foundation von einem internationalen Expert:innengremium erarbeitet.

Frage: Abgesehen von dieser globalen Gültigkeit – gibt es noch weitere Gründe, warum ihr Euch auf das internationale Strafrecht fokussiert?

Antwort: Strafrecht ist Schutzrecht. Es geht in erster Linie darum, Unrecht und Zerstörung zu verhindern. Wenn Entscheidungsträger in Wirtschaft und Politik Naturzerstörung nicht mehr als wirtschaftliches Schadensersatzrisiko einkalkulieren können, sondern persönlich die Verantwortung und das Risiko tragen, für ihre Entscheidungen vor Gericht zu stehen und möglicherweise ins Gefängnis zu gehen, dann werden ihre Entscheidungen ganz anders ausfallen.

Wenn Ökozid ein internationales Verbrechen ist, dann können schwere naturzerstörende Praktiken nicht länger legal finanziert werden. Globale Finanzströme werden an der Quelle umgeleitet – Multimilliarden-Investments werden sich blitzschnell neue und nachhaltigere Wege suchen.

Und nicht zuletzt: Wenn Naturzerstörung kein Kavaliersdelikt, sondern ein Kapitalverbrechen ist, dann verändert sich das gesellschaftliche Bewusstsein. Denn erst das Strafrecht markiert die rote Linie, über die niemand ungestraft hinausgehen darf. Es definiert die Dinge, die nicht legal finanziert oder genehmigt werden können. Erst wenn Moral zu Recht wird, ändern sich die Umstände. Dann jedoch schnell!

Frage: Die Veränderung von gesellschaftlichem Bewusstsein ist ja ein Prozess. Mit Blick auf die zunehmende Spaltung der Gesellschaft in so vielen Ländern – in Deutschland beispielsweise an den Umfragewerten der Parteien abzulesen: Gibt es im Ökozid-Konzept integrierende Ansätze?

Antwort: Im Kern geht es um Gerechtigkeit und Verantwortung. Die Politik muss den Rahmen schaffen, in dem wir alle unserer Verantwortung gerecht werden können. Und damit jede und jeder im eigenen Bereich verantwortlich handelt, müssen insbesondere die zentralen Entscheidungen mit globalen Auswirkungen verantwortet werden.

Ökozid als fünfter Straftatbestand in die Rämischen Statuten

ERGÄNZUNG DES RÖMISCHEN STATUTES IN 4 STUFEN

Vorschlag: bis Herbst, um dann auf dem jährlichen Treffen der Vertragsstaaten im Dezember vorgestellt zu werden
Zulässigkeit: einfache Mehrheit der anwesenden Vertragsstaaten
Aufnahme in das Statut: 2/3 der Vertragsstaaten müssen den konkreten Wortlaut befürworten (derzeit 82 von 123 Ländern).
Ratifikation: Anschließend kann jeder Vertragsstaat die Änderung ratifizieren, also für sich anerkennen und dann in nationales Recht integrieren.Wie können die Römischen Statuten erweitert werden

Frage: Angesichts der dramatischen Entwicklung von Klimakatastrophe und Artenschwund – dauert die Weiterentwicklung von Völkerrecht nicht viel zu lange?

Antwort: Das Ermutigende am Ökozid-Konzept ist: Die Wirksamkeit beginnt schon jetzt. Denn wer möchte etwas verantworten oder in etwas investieren, das in Kürze illegal sein wird oder sein könnte? Allein die Nutzung des Wortes „Ökozid“ beeinflusst aktuelle Entscheidungen.

(Der zweite Teil des Interviews erscheint im nächsten P4F-Newsletter Anfang November und dann auch hier)

 

Umfassende Infos auf der Webseite von Stop Ecocide Deutschland

Was kann ich tun?

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