TRAUER, TRANSFORMATION UND DER SINN DES LEBENS

Trauer, Transformation und der Sinn des Lebens

erschienen im Parents-Newsletter #20 (Juli 2022)

Was ist es eigentlich genau, das einen als Aktivistin antreibt? Eine Erinnerung kommt mir in letzter Zeit immer wieder in den Kopf: Im November 2015 hatte ich gerade begonnen, über die BUNDjugend Klimabildungsworkshops an Schulen zu geben. Den ganzen Tag hatte ich mit aller Leidenschaft Kinder und Jugendliche für Klimagerechtigkeit sensibilisiert, abends saß ich in der Wirtschafts- Fakultät meines Freundes und folgte einer Podiumsdiskussion, in der Wirtschaftswachstum und ein auf das Bruttoinlandsprodukt ausgerichteter Wohlstandsbegriff wie ein völlig unhinterfragter Geist zwischen den Zeilen und durch die Reihen waberte. Der fundamentale Widerspruch zwischen den Inhalten unserer Workshops und dieses Podiums hat mich tatsächlich so hart getroffen, dass ich noch in der Empfangshalle der Fakultät in Tränen ausgebrochen bin. Es war dieses klare Gefühl, dass unsere Arbeit ziemlich ins Leere läuft, solange Kinder in eine Welt hineinwachsen, die maßgeblich von den Paradigmen des Podiums bestimmt ist.

Zwei Menschen im Gespräch auf einem SpielplatzIch möchte mit diesem Beitrag dafür plädieren, Gefühle von Trauer und Verwundbarkeit als wichtigen Antrieb mit transformativem Potenzial zu verstehen. Wir sollten damit nicht hinterm Berg halten oder uns bremsen, sondern sind im Gegenteil mehr denn je gebraucht. Wir stehen auch, wo wir stehen, weil in bestimmte Machtpositionen fast nur gelangt, wer sich innerlich abhärtet, und weil dadurch eine Welt entsteht, in der alle ein Stück weit verdrängen müssen, um leben zu können.

Aktivismus bedeutet für mich in diesem Zusammenhang radikale Ehrlichkeit und Bewegtheit; die Weigerung, abzustumpfen und Empfindungen zu Ungerechtigkeit gesellschaftlichen Konventionen unterzuordnen. Ich plädiere innerhalb der Bewegung immer dafür, uns die Skrupellosigkeit unserer sehr realen und mächtigen Gegner in fossiler Industrie und diese unterstützender Politik sehr bewusst zu machen. Und gerade deshalb so stark wie möglich zusammenzustehen. Aber Zynismus und Menschenbild- Fatalismus, die skeptisch hochgezogene Augenbraue als Reaktion auf den für mich zum politischen Statement gewordenen Satz „Ich mag Menschen“ sehe ich tatsächlich zunehmend als Teil des Problems. Denn wir müssen uns ja schon irgendwie selbst wertschätzen, um uns zu retten, oder? Meine größte Sorge ist, dass wir an der Klimakrise und in ihr aneinander als Menschen verzweifeln. Dass am Ende verschiedene Gruppen vor einem Scherbenhaufen an Gewalt und Leid stehen, aufeinander zeigen und rufen: „Ihr Idioten, hättet ihr es mal bloß so gemacht wie wir!“ Bitte nicht. Das muss anders gehen!

Mit meinem hier umrissenen Antrieb als Aktivistin verbinde ich im Kern auch meine Mutterschaft. Denn das Krasse am Kinderkriegen ist doch, dass es bedeutet, ein Stück Herz auszulagern. Sich im tiefsten Sinne offen und verletzlich zu machen und seinen Mitmenschen großes Vertrauen auszusprechen: Ich lege das Kostbarste in die Welt und vertraue darauf, dass wir alle gemeinsam darauf aufpassen. Angesichts einer Menschheit, die vergeblich versucht, sich ihrer eigenen Verwundbarkeit zu entledigen, ist das Kinderkriegen – so verstanden – fast schon in sich ein transformativer Akt. Es ist der Inbegriff von Hoffnung, und vereint die besten Gründe niemals aufzugeben und dem Zynismus zu verfallen mit dem wiederum größten Schmerz. Eine Zerreißprobe, innerhalb derer man sich als Eltern gut selbst an die Hand nehmen und begleiten muss. Aber ich bin nicht bereit, diese Art von Hoffnung und Streben nach Verbindung aufzugeben, weil es für mich genau das ist, wofür es sich eigentlich zu leben lohnt.

 

von: Marit Schatzmann

 

 

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